Das preisgekrönte Amsterdamer Kreativbüro Formafantasma hat eine Vision: Produktdesign der Zukunft muss radikal neu gedacht werden, um wirklich innovativ und nachhaltig zu sein.
Als sich Simone Farresin aus Mailand und der Sizilianer Andrea Trimarchi, damals beide Anfang 20, an der Designakademie von Florenz kennenlernten, verband sie etwas Zukunftsweisendes: ein sehr kritischer Blick auf das, was ihnen als die große Leistung von zeitgenössischem Design vermittelt werden sollte. „Als wir zum Studieren nach Florenz kamen, erhofften wir uns die radikalen, innovativen Ansätze, für die das italienische Design der 70er- und 80er-Jahre berühmt gewesen war. Doch in den Neunzigern war die Disziplin vollends kommerzialisiert worden. Sie hatte ihren gesellschaftsverändernden Aspekt verloren“, erinnert sich Farresin.
Zum Glück hielten beide an ihrem Traum fest und absolvierten als Duo einen Masterstudiengang an der renommierten Design Academy Eindhoven. Inzwischen lehren sie dort selbst, und zwar einen neuen, allumfassenden Ansatz von Design: Gestaltung mit Verantwortung und Respekt für die Vergangenheit, die Zukunft, den ökologischen Impact eines Produkts. Zwischen Masterabschluss und Lehrauftrag liegen die Gründung des erfolgreichen Designbüros Formafantasma in Amsterdam sowie diverse Solo-Ausstellungen und Biennale-Beiträge, die als bahnbrechend gelten. „Wir interessieren uns nicht für Design, einfach weil wir schöne Dinge mögen“, erklärt Farresin. „Uns fasziniert, dass es eine Disziplin ist, die Wirtschaft, Kultur und ökologische Fragen berührt. Und dabei gleichzeitig das Leben der Menschen auf einem sehr praktischen Level infiltriert.“
Ästhetisch, futuristisch, narrativ: In den Büromöbeln, die Formafantasma für „Ore Streams“ designte, manifestiert sich ein viel umfassenderes Themenfeld als nur der Trend zum Upcycling. „Die Möbelproduktion funktionierte im Endeffekt als Trojanisches Pferd, um an Recycling-Akteure und ihre Informationen heranzukommen“, verrät Farresin.
Ästhetisch, futuristisch, narrativ: In den Büromöbeln, die Formafantasma für „Ore Streams“ designte, manifestiert sich ein viel umfassenderes Themenfeld als nur der Trend zum Upcycling. „Die Möbelproduktion funktionierte im Endeffekt als Trojanisches Pferd, um an Recycling-Akteure und ihre Informationen heranzukommen“, verrät Farresin.
Wie und warum bestimmte Materialien in den Fokus von Formafantasma geraten und was sie daraus gestalten – das kann unterschiedlich vonstattengehen. Farresin schildert den Prozess an einem Beispiel. 2017 beauftragt die National Gallery of Victoria (NGV) in Melbourne Formafantasma, denen ein Ruf als Material-Nerds vorauseilt, mit einer Studie zu einem bestimmten Stoff. Man interessiert sich für den kontextuellen Ansatz des Duos – den es während des Studiums in Eindhoven entwickelte und in der Amsterdamer Agenturpraxis perfektionierte. „Das Thema stand uns vollkommen frei“, so Farresin. Einzige Vorgabe: Da die NGV-Sammlung klar auf Möbeldesign fokussiert ist, sollten sich die Ideen von Formafantasma auch in Möbelstücken niederschlagen.
Das Team
recherchierte – und grenzte bald ein stoffliches Thema ein: Große Teile
der australischen Wirtschaft basieren noch immer auf der Gewinnung von
Mineralien aus dem Boden. „Das fanden wir bemerkenswert, und so entstand
der Schwerpunkt unseres Projekts ,Ore Streams‘ (zu Deutsch „Erzströme“,
Anm. d. Red.). Als wir mit den Nachforschungen zum Thema Edelmetalle
begannen, stellten wir allerdings schnell fest, dass inzwischen die
meisten Materialien auf Metallbasis aus der Wiederverwertung vorhandener
Ressourcen entstehen. Aus einer Tonne alter Computerteile ist so viel
Gold zu schöpfen wie aus 17 Tonnen Erz.“
Wie viele Teile hat ein Fernseher, wie viel Edelmetall versteckt sich in einem Computer? In ihrer Ausstellung – und im Internet unter orestreams.com – demonstrieren Formafantasma den manuellen Zerlegungsprozess elektronischer Geräte.
Wie viele Teile hat ein Fernseher, wie viel Edelmetall versteckt sich in einem Computer? In ihrer Ausstellung – und im Internet unter orestreams.com – demonstrieren Formafantasma den manuellen Zerlegungsprozess elektronischer Geräte.
Das Duo forschte weiter, besuchte und interviewte Recycling-Spezialisten, durchleuchtete den Kreislauf der kostbaren Mineralien von ihrer Gewinnung und Verarbeitung bis zu ihrer Wiederverwertung. Dabei gelang ihnen ein gedanklicher Durchbruch: „Gerade im Hinblick auf elektronische Geräte wurde für uns offensichtlich, dass das Hauptproblem heutigen Recyclings ein Designproblem ist. Wenn ein Produkt so konstruiert wäre, dass es leichter zu montieren ist – und vor allem leichter zu demontieren –, würde es wahrscheinlich auch lokaler, sorgfältiger und in transparenteren Prozessen recycelt, um die enthaltenen Edelmetalle möglichst komplett wiederzugewinnen.“ Der Dialog mit verschiedenen Recycling-Akteuren öffnete den Designern die Augen für ganz grundlegende Dinge, die im Produktdesign bisher kaum eine Lobby hatten.
Ein weiteres Element der Formafantasma-Themenwelten: Technische Fakten und Recherche-Erkenntnisse verwandeln sich in teilweise ätherisch schöne Animationen. Dennoch lassen sich Farresin und Trimarchi ungern als Künstler bezeichnen. „Das ist eine andere Disziplin.“
Ein weiteres Element der Formafantasma-Themenwelten: Technische Fakten und Recherche-Erkenntnisse verwandeln sich in teilweise ätherisch schöne Animationen. Dennoch lassen sich Farresin und Trimarchi ungern als Künstler bezeichnen. „Das ist eine andere Disziplin.“
Farresin führt aus: „Heutige Innovationen sind leider meist keine Innovationen in allen Bereichen, sondern entsprechen nur dem Wunsch des Benutzers. Ich freue mich ja auch über sehr handliche und schöne Gegenstände, aber ich frage mich, ob es fair ist, von Innovationen und Verbesserung unserer Alltagstechnologien zu sprechen, wenn die immer kleineren Einzelteile weiterhin lieblos verklebt werden. Das verkompliziert und verteuert den Prozess des Recycelns unnötig. Anhand welcher Parameter beurteilt man also Innovation?“ Allein die Tatsache, dass im gesamten Elektrotechnik-Segment unterschiedliche Schraubsysteme verwendet würden: Wahre Innovation – und Nachhaltigkeit – auf allen Ebenen des Produktlebens sei es doch, solche Mechanismen zu vereinheitlichen und das Produkt sowohl für den Benutzer als auch den Recyclingprozess transparenter zu gestalten.
Der Wert ihrer
Studien liegt für Formafantasma nicht in daraus resultierenden schicken
Möbeln aus beispielsweise Elektroschrott, die dem Consumer-Trend des
Upcyclings Rechnung tragen. „Unsere Projekte und Ausstellungen, allen
voran ,Ore Streams‘, zeigen anhand von Filmen, Texten und Installationen
den Weg auf, den das Material nimmt, und machen dem Besucher das Wissen
zugänglich, das wir in unserem Rechercheprozess generiert haben.
Natürlich haben wir für ,Ore Streams‘ und die NGV auch Büromöbel aus
alten Computern entworfen. Aber man kann die Nachhaltigkeitsproblematik
unserer Zeit nicht erst auf dem Produktlevel angehen.“
Ob abgefilmte Experten-Interviews oder Videoinstallationen, die sich dem Thema endliche Ressourcen auf einer abstrahierten Ebene nähern – das Medium Bewegtbild ist ein wichtiger Faktor in allen Formafantasma-Ausstellungen. Ihr Hauptanliegen: Den Prozess und die Erkenntnisse der Materialrecherche für Außenstehende erlebbar machen.
Ob abgefilmte Experten-Interviews oder Videoinstallationen, die sich dem Thema endliche Ressourcen auf einer abstrahierten Ebene nähern – das Medium Bewegtbild ist ein wichtiger Faktor in allen Formafantasma-Ausstellungen. Ihr Hauptanliegen: Den Prozess und die Erkenntnisse der Materialrecherche für Außenstehende erlebbar machen.
Archiv der Hölzer: Diese ursprünglich auf der Weltausstellung von 1862 gezeigten Holzproben sind Teil der momentan in den Londoner Serpentine Galleries stattfindenden Ausstellung „Cambio“. Hölzer werden je nach Dichte und Wuchsgeschwindigkeit massenweise industriell genutzt. Formafantasma wollen mit „Cambio“ das Bewusstsein für den holistischen Wert des Baumes als CO₂-Binder, Luftfilter und Erosionsverlangsamer schärfen.
Archiv der Hölzer: Diese ursprünglich auf der Weltausstellung von 1862 gezeigten Holzproben sind Teil der momentan in den Londoner Serpentine Galleries stattfindenden Ausstellung „Cambio“. Hölzer werden je nach Dichte und Wuchsgeschwindigkeit massenweise industriell genutzt. Formafantasma wollen mit „Cambio“ das Bewusstsein für den holistischen Wert des Baumes als CO₂-Binder, Luftfilter und Erosionsverlangsamer schärfen.
Ihre 2020 angelaufene Ausstellung „Cambio“ haben Formafantasma gemeinsam
mit den Londoner Serpentine Galleries konzipiert. „Cambio“ ist eine
Auseinandersetzung mit der Holzindustrie. Gemeinsam mit „Ore Streams“
bildet sie den Grundstein für einen neuen, von Formafantasma betreuten
Studiengang mit Nachhaltigkeitsfokus an der Design Academy Eindhoven:
das Fach Geo-Design. Als einzelner Gestalter könne man vielleicht nicht
die Welt verändern, sagt Farresin. Aber man habe die Pflicht, es
zumindest zu versuchen.
Die absolut lohnenswerte Ausstellung ist auch online unter cambio.website zu erleben. Auch zu „Ore Streams“ hat Formafantasma ausgiebige Hintergrundinformationen bereitgestellt – auf orestreams.com.
Denn eines ist Formafantasma besonders wichtig: Möglichst vielen
Menschen ein Verständnis und eine grundlegende Neugier dafür zu
vermitteln, was sich hinter einem Konsumobjekt verbirgt. Damit
Konsumenten bewusste Entscheidungen darüber treffen können, was ihnen
gefällt und was sie wirklich brauchen. „Wir alle lieben schöne Dinge.
Aber Dinge haben immer eine Geschichte zu erzählen. Und auch diese
sollte uns interessieren.“
Nachhaltigkeit ist eine zentrale Säule der Audi Unternehmensstrategie. In der vierten Generation des Audi A3 beispielsweise kommen Sekundärrohstoffe in Sitzbezügen zum Einsatz. Bis zu 89 Prozent des verwendeten Textils bestehen aus recycelten PET-Flaschen, die in einem aufwendigen Verfahren zu Garn verarbeitet werden. Zunächst zerkleinert man die Flaschen zu Flakes, danach zu noch feinerem Granulat, aus dem dann Polyestergarn und schließlich Gewebe entsteht. Insgesamt werden pro Sitzbezug bis zu 45 PET-Flaschen à 1,5 Liter verwertet. Hinzu kommen weitere 62 PET-Flaschen, die für den Teppich im neuen Audi A3 recycelt wurden. Auch in weiteren Komponenten des Interieurs werden inzwischen Sekundärrohstoffe verarbeitet, so zum Beispiel bei Dämmungs- und Dämpfungsbauteilen, Ladeböden und Einlegematten. Das Ziel ist klar: Der Anteil an recycelten Materialien in Fahrzeugen der Audi Flotte soll in den nächsten Jahren deutlich steigen.